Reales Leben, reale Filmprojektförderung – Marc Hairapetian über JETS-Gewinner 2023

William PeschekNeueste Nachrichten

„What a feeling!“, sang Irene Cara 1983 in dem von Adrian Lyne inszenierten Musik- und Tanzfilm „Flashdance“. Exakt 40 Jahre später möchte man am liebsten in die zum weltweiten Hit avancierte Hymne mit anstimmen, als die Gewinner der siebten JETS Initiative verkündet werden. Denn endlich findet nach drei Jahren Corona-Pandemie und einer gefühlten Ewigkeit die Preisverleihung wieder physisch statt. Und wie! „Nebenan“ tobt die 73. Berlinale. Da kann und will JETS sich nicht zurückhalten. Im stilvollen Ambiente der Kanadischen Botschaft in unmittelbarer Nähe des Potsdamer Platzes und unter Anwesenheit von Ehrengästen wie US-Schauspielerin Samantha Lockwood („Hawaii Five-0“, „Shoot the Hero“), deren mittlerweile 86-jähriger Vater Gary Lockwood mit Elvis Presley („It Happened at the World Fair“), Elia Kazan („Splendor in the Grass“) sowie Stanley Kramer („R.P.M.“) drehte und als Astronaut Frank Poole in Stanley Kubricks Science-Fiction-Geniestreich „2001: A Space Odyssey“ Filmgeschichte schrieb, werden nach zwei Panels („Why is the right cast still relevant for an film project?“,„Green shooting on an international level“) die Sieger unter großem Applaus präsentiert. 25 Filmprojekte mit drei Mal so vielen Filmemachern und Filmemacherinnen aus sieben Ländern sind 2023 am Start. Aus jedem Land kann es nach intensiven Jury-Diskussionen nur einen Gewinner geben. Doch wie sagt William Peschek, der CEO von JETS und WEP Films so treffend? „Bei JETS gibt es nur Gewinner!“ Dementsprechend werden auch zweite Plätze ausgezeichnet. Und der Rest, der diesmal ohne Trophäe nach Hause fährt, hat vielleicht schon zuvor bei dem moderierten Come Together mit anderen Filmteams, Weltvertrieben und Förderanstalten einen Co-Produktionspartner „an Land gezogen“. Widmen wir uns an dieser Stelle den Erstplatzierten!

Der Wilde Westen made in Germany!? Nach den International erfolgreichen Karl-May-Filmen in den 1960er Jahren und dem 2022-er Prequel „Der junge Häuptling Winnetou“, das Kinder, Jugendliche und Eltern begeisterte, schicken sich Regisseur Andre Diwisch und Produzent Patrick Hoffmann mit „Cowboy Kids“an, Wildwest-Atmosphäre in die heutige Zeit zu übertragen. Für ihren fantasievollen, mit eigenen Comic artigen Zeichnungen angefertigten Pitch gab es schon am Vortag viel Zustimmung: William ist ein introvertierter Sechstklässler, der seine Freizeit am liebsten vor der Spielekonsole oder dem Smartphone verbringt. Doch das reale Leben hat für den Stubenhocker viel mehr zu bieten: In den Sommerferien trifft er auf der „Kidmen Ranch“, einem heruntergekommenen Western-Themenpark, auf das gleichaltrige Vollblut-Cowgirl „Lasso Lilli“ und ihre Horde. Und so wird aus dem verwöhnten William der tollkühne Revolverheld „Willy the Kid“. Fortan führt er die „Cowboy Kids“ an, um den Westernpark zu retten. Ein echtes Western-Sommermärchen, erste Liebe nicht ausgeschlossen!

Deutschlands Nachbarland Österreich überzeugte die Jury mit einem Drama über den Konflikt um materielles Erbe, Traumaerfahrungen und die Suche nach Wahrheit: In „Heirs“ von Manuel Wetscher, Chris Dor und Bernhard Jarosch kann es dem hochverschuldeten Finanzspekulanten Marc gar nicht schnell genug gehen, seine geerbte Finca auf Mallorca zu verkaufen. Sein jüngerer Bruder Thomas hat allerdings anderes im Sinn: Im verwaisten Zimmer seiner Mutter, umgeben von Erinnerungsstücken, schreibt er einen Roman über die Familiengeschichte. Für die beiden Brüder ist das der Auftakt zu einer Reise in die autofiktionale Vergangenheit und zugleich eine stärkere Konfrontation mit der Realität, als sich beide zunächst vorstellen konnten. – Felix Austria hat in den letzten Jahren immer wieder bewiesen (siehe die kostengünstig produzierten Filme von Sebastian Brauneis „3freunde2feinde“, „1 Verabredung im Herbst“), dass auf unterhaltsame Weise anspruchsvolles Kino machbar ist.

Um Traumata geht auch in dem kanadischen Projekt „Honey Bunch“, bei dem Madeleine Sims-Fewer und Dusty Mancinelli Regie führen wollen, während Mancinelli zusammen mit Becky Yeboah auch produzieren möchte: Ein schlimmer Autounfall lässt Diana mit einer gebrochenen Hüfte, weiteren schweren Verletzungen sowie inneren Narben zurück. Ihr vermeintlich liebevoller Ehemann Homer besucht mit ihr ein viertägiges „Experiment Trauma-Retreat“, damit sie vollständig genesen kann. Als die Radikalübungen intensiver werden, entdeckt Diana ein düsteres Geheimnis und beginnt, Homers wahre Motive, sie in die Klinik zu bringen, in Frage zu stellen. Ein vielversprechendes cineastisches Konzept über die verstörende Dekonstruktion einer unvollkommenen Beziehung mit Gothic- und Science-Fiction-Elementen, in denen man die Geister, die gerufen werden, nicht so schnell wieder loswird.

„Five Months Gone“ aus Irland von Drehbuchautor Marcus Lloyd, Regisseurin Hildegard Ryan und Produzent Jason Forde hat ebenfalls großes Thriller-Potential. Der angesehene Arzt Steven Rivers fährt nach einer Weihnachtsfeier mit seiner schwangeren Frau nach Hause. Er verliert die Kontrolle über sein Auto und prallt gegen einen Baum, was den Tod des ungeborenen Kindes verursacht. Drei Jahre später und jetzt allein lebend, pflegt Steven eine Freundschaft mit Amy, einem obdachlosen Teenager in einem Hostel. Er bietet ihr ein Zimmer in seinem Haus als Gegenleistung für die Hausarbeit an, und sie sagt zu. Als sie einzieht, erkennt sie rasch, dass Steven mehr von ihr will als nur die Haushaltsführung. Sucht er eine Ersatztochter oder gar eine Ersatzfrau? Die Wahrheit ist viel unheimlicher. Denn Amy entdeckt, dass vor ihr ein anderes Mädchen verschwunden ist. Dem nicht genug, wird sie schwanger und befindet sich plötzlich in einem verzweifelten Kampf, sich und ihr Ungeborenes zu retten. Ein düsteres Psycho-Drama voller Suspense.  Alfred Hitchcock lässt schön grüßen!

In „The Legend of Magnus the Good“ geht es trotz tragischer Situationen weitaus heiterer zu. In dem norwegischen Anime-Beitrag von Drehbuchtor Rob Spackling und Co-Produzentin Barbie Heusinger reisen wir zurück ins Jahr 1030: Am Vorabend der Schlacht von Stiklestad treffen wir den elfjährigen Prince Magnus und seinen lieben, aber etwas feigen Wolf Skoll. Magnus hingegen ist willensstark und furchtlos. Er glaubt, dass er die traditionellen Wikinger-Werte kaltblütiger Rücksichtslosigkeit, die sein Vater stets predigt, übernehmen muss, wenn er eines Tages ein guter König sein will. Als König Olaf im Kampf stirbt, wird Magnus von seinem ehrgeizigen Onkel Harold verraten, der seine Ermordung plant. Magnus wird zum Glück von Odins magischem ‚Schwert der Walküren‘ gerettet und durch Zeit und Raum ins moderne Oslo transportiert, verfolgt von Harolds furchterregenden Kriegern. Magnus kommt in „Valhalla“ an, einer schwulen Bar in der Innenstadt von Oslo, wo er mitten in einer „It’s Raining Men“-Performance landet, die nicht von The Weather Girls, sondern von den „Walküren“ aufgeführt wird, einem Girl-Group-Drag-Act mit unterschiedlichem Talent. Er glaubt, dass die Drag Queens die wahren Walküren aus der Legende sind und bittet sie, ihm dabei zu helfen, den Thron von seinem Onkel zurückzuerobern. Die Walküren denken, dass Magnus nur ein fantasievolles, dabei gleichzeitig überspanntes Kind ist, aber ihre gutherzige Anführerin Divine überzeugt ihre beiden Freunde, pardon: Freundinnen: Coco, ein frecher, somalischer Flüchtling, und Zsazsa, ein alterndes ehemaliges Starlet im Norma-Desmond-Stil, nehmen Magnus unter ihre Fittiche. Happy-End nicht ausgeschlossen! Ein furioses Spiel um Geschichte (und Geschichten) inklusive Coming-of-Age- und Gender-Elementen für GROSS und Klein!

Wieder düster geht es bei „Without, Wich Not“ zu, wobei Regisseur Louw Venter  und Produzentin Tassyn Munro demonstrieren, dass Südafrika im Filmbereich nicht nur einzigartige Locations und preiswerte Produktionsbedingungen zu bieten hat: Der ehrgeizige Mpilo kehrt von einem Künstleraufenthalt zurück, weil er Jodi heiraten will. Bei seiner Willkommensparty findet er heraus, dass sein Zwillingsbruder Senzo und seine Freundin Jodi während seiner Abwesenheit eine Affäre hatten. Im Schlafzimmer bricht ein Kampf aus und Mpilo tötet Senzo. Mpilo und Jodi beratschlagen sich und beschließen, den Mord zu vertuschen. Kurze Zeit darauf gehen sie den Bund der Ehe ein, die aber von dem dunklen Geheimnis, das sie teilen, überschattet wird. Jahre später sieht Mpilo Senzo als Junkie auf der Straße leben und die Realität beginnt sich um ihn herum aufzulösen… Ein Mystery-Thriller für den noch ein Co-Produktionspartner benötigt wird.

Ihr großes künstlerisches Potential hat die britisch-kanadische Schauspielerin und Regisseurin Shelagh McLeod schon oft unter Beweis gestellt. So stand sie mit dem irischen Ausnahmedarsteller Peter O‘Toole („Lawrence of Arabia“, „Lord Jim“) gemeinsam auf der Bühne und inszenierte „Astronaut“, den JETS-Gewinnerfilm der Jahres 2017, mit Steven Spielbergs Lieblingsdarsteller Richard Dreyfuss („Jaws“, „Close Encounters of the Third Kind“), der im Corona-Jahr 2020 seinen internationalen Release hatte. Sie versteht es, persönliche Geschichten über unerfüllte Träume mit äußerster Sensibilität auf die große Leinwand zu zaubern. Bei „Ada“ hat sie eine kongeniale Partnerin in Drehbuchautorin Ann Hawker gefunden: Als bei der 75-jährigen Ada Demenz diagnostiziert wird, weiß sie, dass ihr messerscharfer Verstand für immer verloren sein wird. Doch sie gibt nicht auf – NIEMALS! Sie beschließt, zu einer Klinik für assistierten Suizid in die Alpen zu reisen, um ihr Leben zu beenden, bevor sie völlig den Verstand verliert. Nur macht sie sich in ihrer Verwirrung auf den Weg in das falsche Land – anstatt nach Österreich reist sie in die Schweiz -, wo sie von ihrer Tochter Zoe gerettet wird. Ada weigert sich, nach Hause zurückzukehren. Und so machen sich Mutter und Tochter zu einem Roadtrip in der Bergwelt auf. Durch die gemeinsamen Reisen ändert sich Zoes angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter. Sie hat Jahre damit verbracht, ihre Zustimmung zu suchen; endlich haben sie nun die Chance, sich auszusöhnen. Während Ada mit zunehmend beängstigenden und dunklen Erinnerungen zu kämpfen hat, wird Zoe klar, dass sie ihr helfen muss. Gemeinsam reisen sie über die funkelnden Berggipfel und probieren, den Frieden zu finden, den Ada verzweifelt sucht. – Die auf persönlichen Erfahrungen basierende Geschichte – Ann Hawkers Mutter hatte Demenz – verspricht großes Schauspielerkino. Für die Titelrolle haben McLeod und Hawker bereits die Fühler nach der wohl bedeutendsten lebenden britischen Aktrice ausgestreckt: Die inzwischen 88-jährige Oscar-Preisträgerin Dame Judith „Judi“ Olivia Dench (Elisabeth I. In „Shakespeare in Love“), berühmt auch als „M“ aus zahlreichen „James Bond 007“-Filmen von „Golden Eye“ (1995) bis „Spectre“ (2015), ist die erste Wahl der beiden. Drücken wir die Daumen, dass es mit der Finanzierung klappt. Aber das dürfte mit dieser Story und der anvisierten Titelheldin kein Problem sein. Fragt sich nur, wer Zoe spielen wird… Anyway: Rule Britania!

JETS fördert Talente und bringt sie mit großen Stars zusammen. Das mag auch für die diesjährigen Sieger der zweiten Plätze gelten, als da sind: Jennifer Westcott und Victoria Westscott („Throwback Thursday“, Kanada), Lukas Rinker & Tonio Kellner („Paws“, Deutschland),

Rioghnach Ni Ghrioghair und Claire Mc Cabe („The Hive“, Ireland), Ida Eldøen und Bente Maalen („Recycled“, Norwegen) sowie Luca Nappa und Lionelle Galloppa („Deep South“, Großbritannien). Auch über sie und ihre Projekte wäre einiges zu berichten, doch das ist eine Geschichte, die ein anderes Mal erzählt werden wird…

Marc Hairapetian ist Freier Journalist (u.a. Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung) sowie seit seinem 16- Lebensjahr Herausgeber des von ihm begründeten Kulturmagazins Spirit – Ein Lächeln im Sturm https://spirit-fanzine.de