Cineastische Vielfalt in jeder Hinsicht – Marc Hairapetian über die Zweitplatzierten der jeweiligen Landeskategorie bei JETS 2023

William PeschekNeueste Nachrichten

Die JETS Initiative kennt bekanntlich keine Verlierer. Alle Teilnehmer, die ihre Filmprojekte vorstellen, sind Gewinner. Und so wird vor allem auch den Zweitplatzierten der Pitches mittlerweile schon traditionell großer Stellenwert eingeräumt. Das Prädikat „Zweiter Sieger“ sieht nicht nur auf der Urkunde gut aus, sondern klingt auch für Co-Produktionspartner, Weltvertriebe und Förderungsanstalten attraktiv. 

Die Preisverleihung fand diesmal in der Kanadischen Botschaft am Berliner Potsdamer Platz statt. Lassen wir deshalb „Throwback Thursday“, dem vielversprechenden Filmprojekt aus dem gemessen an der Fläche nach Russland zweitgrößten Staat der Erde, den Vortritt bei unserer Betrachtung der „Runners-Up“. Regisseurin Jennifer Westcott und Produzentin Victoria Westwood möchten hierbei eine charmante Mixtur aus der Highschool-Persiflage „17 Again“ und dem Computeranimationsspaß „Zoomania“ auf die Leinwand zaubern: Nachdem er seine kleine Schwester das eine Mal zu viel im Stich gelassen hat, folgt für einen an sich beliebten Teenager-Gepard eine – magische – Strafe auf den Fuß. Er wird wieder in den Versager (zurück)verwandelt, der er einst in der Mittelschule war. Zu allem Unglück bleibt ihm nur noch eine Woche, bis er das Basketballteam zum Sieg bei den Stadtmeisterschaften führen und zum Abschlussballkönig gekrönt werden soll. Er muss schnellstens einen Weg finden, den Bann zu brechen. Ansonsten bleibt er für immer ein Idiot… Hier gilt: Es darf gelacht werden – bei Klein und Groß!

Humorvoll, aber von seiner schwärzesten und satirischsten Seite präsentiert sich der irische Pitch zu „The Hive“ von Regisseurin Rioghnach Ni Ghrioghair und Produzentin Claire Mc Cabe: Die in jeder Hinsicht angesagte Influencerin Melanie ist auf dem Hive HQ Campus in Dublin Docklands angekommen, um eine lukrative Livestream-Feier für ihr einjähriges Bestehen aufzuzeichnen. „Hive“ nennt sich ein neues soziales Medium. Unendliches Vergnügen suggeriert es seinen Usern und verspricht einen sicheren und positiven Ideenaustausch über virtuelle Interaktion in Echtzeit. Die „24-Stunden-Online-Party“ wird dabei von dem von sich selbst mehr als überzeugten CEO Patrick Solveig ausgerufen: Es lebe der Hedonismus! Im Laufe des Abends wird aber klar, dass Hive das Ziel einer sinistren Terroristenzelle ist, die sich aus den „Incels“ Sebastian, Peter und Jaspar zusammensetzt. Als ihre Entführungspläne fürchterlich in die Hose gehen, geraten sie mit Melanie, Patrick und einer Gruppe von Geiseln in eine Belagerungssituation. Bei der Tour de Force im Live-Stream sind die Geiseln regelrecht dazu gezwungen, bei einem kranken Spiel mitzumachen, das offenbaren soll, wer sie wirklich sind, und das nur aus dem Grund, damit sie ihre inkompetenten Angreifer selbst angreifen! Das Inferno bricht aus, als die Jäger in einer blutigen Allegorie eines Internetstreits zu Gejagten werden. Der wilde Ritt durch die Genres von Dark Comedy über den Horror-Thriller bis zur Medienschelte erinnert an „Bodies Bodies Bodies“, „The Social Network“ sowie dem visionären, auf Robert Sheckleys Kurzgeschichte „The Prize of Peril“ basierenden deutschen Fernsehfilm „Das Millionenspiel“, bei dem am Tag der Erstausstrahlung, es war der 18. Oktober 1970, viele Zuschauer bei der ARD anriefen und sich für selbiges bewarben, da sie dachten, sie hätte gerade reale Abläufe und nicht inszenierte gesehen.

Um eine andere Art von Kampf, nämlich einen Kulturkampf geht es in dem britischen Projekt „Deep South“ von Regisseur Luca Nappa und Produzentin Lionelle Galloppa. Als Lello vor Jahren nach London zog, ließ er seine schwierige Kindheit endgültig hinter sich. Doch als ihn zwei Jugendfreunde aus Neapel besuchen, wird ihm bewusst, dass er seiner Vergangenheit nicht mehr entfliehen kann. Die beiden sind der Engstirnigkeit und der toxischen Kultur ihrer Kindheit noch immer nicht entwachsen. Und dann scheinen sie auch noch regelrecht versessen darauf zu sein, den „alten Lello“ ihrer Jugendtage „wiederzubeleben“, ob diesem das nun passt oder nicht. Die Situation eskaliert, als sich auf einer Party eine Bande britischer Jungs über das gebrochene Englisch der Italiener lustig macht. Diese fordern für die Diskriminierung Vergeltung. Wird Lello angesichts des zunehmenden Drucks in seine alten Gewohnheiten verfallen, um diese Nacht zu überleben? Ein brisanter Stoff, in dem Fremdenhass, Assimliationsfähigkeit und Selbstreflexion aufeinander prallen, um einen Thriller für anspruchsvolle Zuschauer zu schaffen.

Ein intensives Kammerspiel, das nicht nur für die LGBT-Community interessant ist, verspricht „Recycled“ aus Norwegen von Ida Eldøen (Regie) und Bente Maalen (Produktion): Mona Lisa (!), einst eine aufgeschlossene, heitere Frau, ertrinkt jetzt in Arbeit und Rotwein und versucht vergeblich, die Trennung von ihrer Freundin zu verarbeiten. Wie es das Leben (und das Drehbuch so will) rettet sie nachts auf dem Heimweg von der Arbeit eine Frau aus einer Kleidersammelbox. Mona Lisa verliebt sich sofort in die mysteriöse Emira. Sie vergisst aber, die schöne Unbekannte nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Während sie nach ihr sucht, lässt sie sich auf ein Blind Date mit Trine ein. Wird Mona Lisa Emira finden, wird sie Trines Charme erliegen – oder gar beiden? „Der Zufall ist der Schnittpunkt mehrerer Notwendigkeiten“, schrieb der polnische Aphoristiker Stanisław Jerzy Lec einmal. Bei „Recycled“ trifft dieser Satz ins Schwarze!

Deutschland, das Gastgeberland der JETS Initiative seit nun mehr sieben Jahren, hat mit „Paws“ ein Projekt das auch ins Schwarze trifft und zwar direkt in die Zielscheibe des schwarzen Humors. Lukas Rinker (Regie) und Tonio Kellner (Produktion) arbeiten an einem Tiermonster-Film mit einigen schlüpfrigen Gore-Elementen rund um die junge Inuit-Klimaforscherin Nook, die mit ihrem Finanzier eine Expedition in die Arktis leitet. Ihr Wissenschaftsschiff ist tief im Eis zusammengebrochen und ihr Team ist dabei, sie und ihre Sache zu hintergehen, um nach Öl zu graben. Als dann eine hungrige Eisbärenmutter die fremdelnde Crew angreift und weit und breit keine Hilfe in Sicht ist, sinken die Überlebenschancen rapide. Wird Nook es schaffen, die monströse Nordpol-Königin in Schach zu halten und gleichzeitig ihren Lebensraum vor der zerstörerischen Ölförderung zu schützen? Trash-Elemente und ökologische Botschaft schließen sich also nicht aus und bei Tiermonstern muss es ja nicht immer „Der weiße Hai“ von Steven Spielberg sein, der die Berlinale in diesem Jahr als  Ehrenbär-Preisträger gewann und dem Verfasser dieser Zeilen ein Interview gewährte.

Stellvertretend für alle Zweitplatzierten (und auch die ersten Sieger) antwortet Lukas Rinker auf die Frage, ob sich die Teilnahme an der JETS Initiative jetzt schon für sie bezahlt gemacht hat:  „Aktuell laufen da die Gespräche mit potentiellen Co-Produktionspartnern. Bisher haben wir viel gutes Feedback erhalten und holen Angebote für eventuelle Co-Developments ein.“ Nun heißt es also fest die Daumen drücken!

Marc Hairapetian ist Freier Journalist (u.a. Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung) sowie seit seinem 16- Lebensjahr Herausgeber des von ihm begründeten Kulturmagazins Spirit – Ein Lächeln im Sturm https://spirit-fanzine.de