Wenn einem jemand während der Berlinale im Februar 2020 gesagt hätte, dass ein Jahr später fast weltweit alle Kinos,Theater, Konzertsäle, Clubs und andere „Vergnügungsstätten“ geschlossen sein würden und das bereits seit Monaten, wäre dies sogar von Branchenkennern für unmöglich gehalten worden. Doch die COVID-19-Pandemie, die sich Ende 2019 von Wuhan in der Volksrepublik China ausgehend in kürzester Zeit um den ganze Erdball spannte, hat uns alle überrollt: Ob Filmschaffende vor und hinter der Kamera, Verleiher, Theaterbetreiber oder Journalisten. Und wir sind ja nicht allein. Die meisten anderen Berufsgruppen haben ähnlich drastische Einbußen, u.a. weil Geschäfte aufgrund Anordnungen der Regierungen geschlossen bleiben müssen. Man „geht“ nicht mehr zur Arbeit. Home Office und Digitalisierung sind angesagt. Durch den Lockdown, der in jedem Land andere Akzente hat, aber die gesamte Bevölkerung hart trifft und die Lebensqualität beziehungsweise die Lebensfreude stark beeinträchtigt, befinden wir uns im Frühjahr 2021 in dystopischen Zuständen. Und ein Ende dessen, die Rückkehr zur sogenannten „Normalität“, ist noch nicht in Sicht.
Mit dieser Thematik musste sich auch die JETS Initiative 2021 beschäftigen. Das Panel unter der Überschrift „Revenue Streams: What happens after COVID-19?“ (deutsch: „Einnahmequellen: Was passiert nach COVID-19?“) am ersten Veranstaltungstag förderte eine lebendige und durchaus kontrovers geführte Diskussion zutage. Via Zoom-Video-Konferenzschaltung moderierte Journalist Martin Blaney (u.a. Osteuropa-Korrespondent des Magazins Screen International in Deutschland) vor 110 Teilnehmern die Veranstaltung, bei der folgende sieben JETS-Jury-Mitglieder ihre jeweiligen Standpunkte deutlich machten: Colette Aguilar (Moonrise Pictures, Spanien), Daisy Hamilton (TriCoast Worldwide, USA), Anick Poirier (WaZabi, Films, Kanada), Todd Brown (XYZ Films, USA), Patrick Ewald (Epic Pictures Group, USA), Brian Nitzkin (Myriad Pictures, USA) und Antonio Exacoustos (Arri World Sales, Deutschland).
Dabei kristallisierten sich zwei Standpunkte der „Verwertungskette“ Filmbusiness heraus:
Die US-amerikanische Seite, angeführt von dem in Los Angeles sitzenden Todd Brown, der Executive Producer bei THE RAID (2011) und „THE RAID 2“ (2014, beide Indonesien), den wohl zwei besten Independent-Martial-Arts-Krachern der Neuzeit war, sieht die Verleih-Möglichkeiten durch neue Wege wie „Video on Demand“ und Streaming nicht gefährdet. Im Gegenteil: Für ihn und viele seiner US-Kollegen hätte es durch die Digitalisierung in den Lockdown-Zeiten sogar einen regelrechten „Boom“ gegeben. Seine Kollegin Daisy Hamilton (SMITTY, LOVELAND) ergänzt: „Der US-Markt hat ganz offensichtlich seine Taktik geändert. Online-Plattformen wie Amazon und Netflix schwingen sich innerhalb der Pandemie zu Markführern auf. Soziale Medien wie TikTok, Facebook oder Instagram werden zudem immer wichtiger und mit Content gefüttert.“ Damit würde treffend auf die neuen Sehgewohnheiten reagiert, die nicht nur durch den Lockdown und die Schließung der Kinos zustande gekommen wären, sondern auch durch die Hauptzielgruppe „junge Leute“, die Filme mittlerweile hauptsächlich auf dem Laptop oder gar Handy sehen. Patrick Ewald (WHO GETS THE DOG?, THE MAN WHO KILLED HITLER AND THEN THE BIGFOOT) weist darauf hin, dass der Besuch im Disney Themenpark inklusive Filmvorführung eine Familie schon mal 150 US-Dollar kosten könnte. Da wäre es doch preiswerter, dass inzwischen von Disney regierte Marvel Universe doch online zu entern… Für Todd Brown würden ohnehin nur noch Disney-Blockbuster die Multiplexe füllen.
Anick Poirier (THE DEATH AND LIFE OF JOHN F. DONOVAN, BELOW), vertritt, obwohl in Kanada ansässig, vehement (und leidenschaftlich) den europäischen Standpunkt. Sie glaubt nicht, dass die Lichtspielhäuser nach der Pandemie aus den Groß- und Kleinstädten verschwinden, erst recht nicht in Europa und Asien, wo die Menschen enger zusammenleben würden und die Wege nicht so weit wären als in Nordamerika: „Ins Kino gehen, ist Teil der Kultur. In Kanada hat die Pandemie zu einem ‚Back Clash‘ geführt. Die Leute sind regelrecht krank davon geworden, zu Hause herumzuhängen.“ Ihr Landsmann, BLADE RUNNER 2049- und DUNE-Regisseur Dennis Villeneuve, hätte schon vor kurzem zu denken gegeben: „Zu was für eine Art Menschen, sind wir geworden?“ Colette Aguilar (WAYS TO LIVE FOREVER, MOMENTUM) pflichtet ihr weitgehend bei: Für Independent-Verleiher seien die Einnahmen aus dem Kinogeschäft wichtig, allerdings auch aus späteren Verwertungen im Fernsehen. Content gäbe es ja zu Genüge. Antonio Exacoustos (HAI-ALARM AM MÜGGELSEE, DER GESCHMACK VOM LEBEN), der früher Leiter des Weltvertriebs im Filmverlag der Autoren war und nun Leiter der ARRI MEDIA WORLDSALES und der B.A. Produktion GmbH sowie Vorstand des Verbandes Deutscher Filmexporteure (VDFE) ist, beklagt, dass die Minimumgarantien aus staatlichen TV-Geldern, aber auch des Privatfernsehens zu wenig seien, um langfristig (wieder) erfolgreich wirtschaften zu können.
„Wo werden wir in einem Jahr sein?“, fragt Martin Blaney. Brian Nitzkin (THE SIGNAL, THE CIRCLE) sieht bei aller Vorsicht „Wasser in der Wüste“. Patrick Ewald glaubt erst wieder an Kino-Eröffnungen, wenn die Wissenschaftler (und somit auch die Politiker) dazu „grünes Licht“ geben. Daisy Hamilton ist optimistisch gestimmt, „wenn alle sich gegenseitig helfen“. Todd Brown ebenso, weil das Potential durch die neuen Erfahrungen, die die jungen Leute mit Social Media und anderen Digital-Formen machen, noch lange nicht ausgeschöpft sei. Ehrlich gibt er zu denken, dass die Industrie dabei zusehen müsse, „wo das Geld wirklich ist“. Antonio Exacoustos hat ein schönes Schlussstatement: „Als gebürtiger Italiener bin ich immer positiv gestimmt. Durch die jetzige Situation werden vielleicht nicht mehr so viele Filme gefördert, aber dafür bessere. Ich möchte aber nicht nur bei Filmfestivals wieder Hände schütteln und in der Bar sitzen, um die Stimmung der Leute hautnah zu spüren. Denn die Stimmung der Leute hat wesentlich Einfluss auf die Stimmung innerhalb der Industrie.“ Und deshalb bleibt zu hoffen, dass das nächste Panel der JETS-Initiative, also im Jahr 2022, wieder in einem gut gefüllten Konferenz- oder noch besser: Kinosaal stattfindet!
Marc Hairapetian ist seit 1984 Gründer und Herausgeber des Kulturmagazins Spirit – Ein Lächeln im Sturm https://spirit-fanzine.de