„Es ist immer schön, ein Gewinner zu sein!“, freut sich Regisseurin und Drehbuchautorin Jo Southwell bei unserem Zoom-Interview über den ersten Platz für ihr Filmprojekt „Loyalty“ und das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland bei der JETS Initiative 2022. Ihre Produzentin Rachel Gold ergänzt mit einer Prise Selbstironie: „Vorher hat man sich schon so manches Mal gefragt: ‚Was mache ich hier eigentlich?’ Doch mit jeder Arbeit an einem Film produziert man auch seine eigenen Geschichten. Der Gewinn bei JETS ist für uns eine davon. Bisher hat Jo immerhin schon zwölf Kurzfilme inszeniert, darunter drei Folgen der TV-Serie „Doctors“ (alle 2022). „Loyalty“ soll nun ihr erster abendfüllender Spielfilm werden. Für Rachel ist es bereits der zweite. Für Jo, die in Northampton geboren wurde, aber irische Wurzeln hat, ist es durch den weiblichen Blick der Protagonistin, einer jungen Sportlehrerin, die einst durch ihre Familie in kriminelle Machenschaften verwickelt war, die sie nun wieder einholen, als ihr ältester Bruder von einem Unterwelt-König getötet wird, „weit mehr als ein typischer Action-Gangster-Thriller“. Es ist auch ein Familiendrama, indem es um Werte wie Zusammenhalt, Ehre und die titelgebende Loyalität geht. Den Austausch mit anderen Cineasten sowie den Weltvertrieben und Förderanstalten findet sie in den schwierigen Zeiten der Pandemie mit vorrangig Videokonferenzen bei Besprechungen „inspirierend“. Rachel nimmt ihr dann das Wort beinahe aus dem Mund, wenn sie sagt: „Am Ende wollen wir alle dasselbe: einen Film machen und hinaus in die Welt schicken!“
Dieses lohnenswerte Ziel hat sich auch „Capra Film“ aus Wien mit „Dracu – The Eleonore Case“ gesetzt. Die junge Produktionsfirma zielt 2022 verstärkt auf Horror-Filme ab. Neben dem bereits abgedrehten „Family Dinner“, bei dem „Dracu“-Co-Produzent Peter Hengl inszeniert hat, wandelt man mit „The Eleonore Case“ auf den Spuren von William Friedkins Welterfolg „The Exorcist“ (1973). Im Gegensatz zur US-amerikanischen Symphonie des Grauens, die sogar als „Bester Film“ bei der Oscar-Verleihung nominiert war und das Genre visuell wie verbal in seiner Drastik neu definierte, orientiert man sich hier an einem realen Fall: Der Dämonenaustreibung eines zwölftjährigen rumänischen Mädchens durch die erste weibliche Parapsychologin (und Astrologin) Gräfin Zoe Wassilko von Serecki (* 11. Juli 1897 in Czernowitz; † 26. November 1978 in Wien). Dabei kommt der am 5. November 1982 in Waiblingen geborene Regisseur und Drehbuchautor Marc Schlegel, den es einst zum Studium an die Filmakademie Wien verschlagen hatte, eigentlich von der Komödie. Für ihn kein Hinderungsgrund, denn Gegensätze ziehen sich bekanntlich an: „Ich bin förmlich in die historische Figur hineingestolpert. Als ich von dem dem authentischen Fall gehört habe, bin ich wie elektrisiert gewesen: ‚Das muss ein Film werden!‘ Bisher habe ich ja neben den zwei ebenfalls lustigen Langfilmen ‚Schmidts Katze’ und ‚Sommer auf drei Rädern‘ meist Sitcom-Fernsehformate wie ‚Meine heile Welt‘ mit Michael Kessler bei ZDFneo gemacht, Comedy und Horror sind aber zwei Genres, die bei der Inszenierung nicht allzu unterschiedlich sind: Sie erfordern beide einen sehr handwerklichen Zugang und wollen eine direkte Reaktion beim Zuschauer auslösen: Hier das Lachen, dort sich zu gruseln.“ „The Exorcist“, der einem nach fast 50 Jahren immer noch „schocken“ würde, wäre dabei natürlich ein großer Einfluss wie auch zwei Meisterwerke der Horror-New-Wave: Robert Eggers „The Vvitch: A New-England Folktale“ (2015) und Ari Asters „Midsommar“ (2019). Wie sind er, Lola Basara und Peter Hengl von Capra Film, die für “anspruchsvolles Genre-Kino mit österreichischer Identität“ stehen wollen, überhaupt auf die Bewerbung bei JETS gestoßen? „Österreich ist zum ersten Mal dabei, insofern hat das Österreichische Filminstitut darauf in seinem Newsletter aufmerksam gemacht.“, begeistert er sich, „‚Dracu – The Eleonore Case’ ist Capra Films zweite Produktion und mein dritter Spielfilm. Da ist die JETS Initiative wie für uns gemacht!“ Glaubt er auch, dass durch den ersten Rang für Österreich das Vorhaben wirklich angeschoben wird? „Auf jeden Fall. In jeder anderen Branche ist es hilfreich, wenn Profis auf ein Projekt schauen. Förderer und Weltvertriebe sind dank der JETS-Plattform genau unsere Ansprechpartner!“
Apropos Felix Austria: Den zweiten Platz ergatterte die Animations-Action-Comedy „Mission Granny“, die nun auch anstelle von „Operation Oma“ in seinem Ursprungsland den internationalen Titel bei der Kino-, DVD-, Blu-Ray und VoD-Auswertung tragen soll. „Uns geht es darum, eine andere Art von Oma darzustellen.“, findet Loredana Rehekampff, „Sonst sind in Animationsfilmen Großmütter immer lieb und etwas langweilig, bei uns ist sie so eine richtige ‚Bad Ass‘-Figur mit lila Haaren, Pfeife und Trenchcoat.“ Das „Sammelsurium an lustigen Ideen“ inklusive Spionagegeschichte mit Verfolgungsjagd in einem Fiaker durch Wien, wobei auch ein Abstecher in die Kanalisationen mit dem Erklingen des legendären „Harry Lime Theme“ aus dem Noir-Klassiker „The Third Man“ (1949) nicht fehlen darf, soll dem – bis auf „Rotzbub -Der DEIX Film“ (2021) – in Österreich bisher noch unterentwickelten Genre des Animationsfilms tüchtig auf die Beine helfen.Geplant ist also eine wahre Zither-Partie mit dem Gütesiegel „Mainstream-Family-Entertainment at ist best“. Deswegen hat man sich auch früh entschieden, mit dem Wiener 3D-Animationsstudio Arx Anima zusammenzuarbeiten. Deren Mitbegründerin und CEO Dunja Bernatzky gibt das Lob der Jury für „Mission Granny“ an JETS zurück: „Es ist schön so eine Anerkennung und auch die Möglichkeit zu haben, internationale Unterstützung aus der Industrie zu bekommen! Wir erhoffen uns einen interessanten Austausch mit Experten und freuen uns auf Support!“ Welches Land als Ko-Produktionspartner wird bevorzugt? Vielleicht der „Big Brother“ aus Germany? Dunja: „Persönlich haben wir keine Präferenzen; die Parameter werden eher von Fördergeldern, technischen Möglichkeiten und Talent bestimmt.“
Letztere hat in Hülle und Fülle auch Liese Kuhn, die mit „Extravagant Ways to Say Goodbye“ auf Platz Zwei für Südafrika landete. Und das an ihrem 27. Geburtstag! Per Video-Schalte aus Kapstadt wirkt ihre Fröhlichkeit ansteckend. Als Tochter eines Pfarrers einer evangelisch-methodistischen Kirche hat sie deutsche Wurzeln durch ihre Großeltern. Ihre Schwester trägt den hübschen Namen Heidi. Am liebsten sieht Liese Tragikomödien, also möchte sie auch selbst eine drehen. Die Sicht eines von Todesangst geplagten jungen Mädchen, das dennoch mit Humor tapfer seine Frau steht, auf eine aus den Fugen geratene Welt ist gerade in unserer heutigen Zeit, wo die Covid-19-Pandemie den Menschen rund um den Globus immer noch schwer zu schaffen macht und nun die russische Invasion in der Ukraine internationales Entsetzen hervorgerufen hat, ist also aktueller denn je. „Ich hatte auch Angst bei der JETS-Einreichung“, gesteht Liese jetzt befreit auflachend, „… nämlich, dass mein Filmtitel viel zu laaang wäre.“ Diese Befürchtung war zum Glück unberechtigt. Das Potential ihrer von (unfreiwilliger) Situationskomik gespickten Geschichte, in der auch die schrecklichsten Ereignisse wie die Krebserkrankung der Mutter in erheiternde Sequenzen eingebettet sind, wurde von der Jury sofort erkannt. Denn in der Komik bei an sich tragischen Lebensumständen würde ja so viel Herz liegen: Ein Lachen, dass den Tod überwindet und sich dem Leben zuwendet. JETS sei für sie eine „wundervolle Erfahrung“, bei der sie über das Vorantreiben ihres filmischen Projekts neue Freunde aus der ganzen Welt finden könne.
Wo wir gerade bei dem hehren Begriff der Freundschaft sind: Manchmal springt auch der Funke vom Interviewer auf den Befragten und wieder zurück herüber. So im Fall von Jim Donovan bei dem sich die festgesetzte Interview-Zeit des Video-Calls gar verdreifacht. Das kommt davon, wenn sich zwei eingefleischte Cineasten unterhalten, erst über den bei JETS vorgestellten Pitch zu „Something Like Truth“, der das Rennen um Platz Eins für Kanada machte, dann über Lieblingsfilme überhaupt. Sein komplexes Kammerspiel über einen Polizeiermittler, dessen Welt in den drei Vernehmungsräumen, wo er sonst Verdächtigen mit Fragen zusetzt, an einem einzigen Tag zusammenbricht, weil seine Kollegin bei einem Einsatz ein schwarzes Kind erschossen hat und er von seiner Tochter erfährt, dass ihn seine eigene Frau betrügt, löst von der Synopsis her schon viele Gedankenspiele aus. So stellt sich der Verfasser dieser Zeilen den Film als ein in Schwarzweiß gefilmtes Noir-Drama vor, während für Jim „nur Farbe in Frage kommt“. Die Teilnahme bei der JETS Initiative 2022 sei für den aus Québec stammenden Filmemacher noch mal der Anstoß zu der Reflexion gewesen, warum er diesen Film überhaupt machen wolle. Durch den Gewinn möchte er nun bei der Projektentwicklung „das Momentum“ nutzen. Dabei verfolgt er zwei Strategien: Entweder Telefilm Canada liesse sich vom Ersten Platz beeindrucken, dann könnte recht bald gedreht werden. Oder, wenn es als reiner Independent-Film auf eine Co-Produktion herauslaufen sollte, könne er mit seinem eingeschworenen Team aus dem hohen Norden Nordamerikas auch „nach Berlin, Budapest oder Kapstadt reisen“, um den Film zu verwirklichen. Den letztendlich benötige er nur einen Drehort mit drei Räumen, die man in jedem Studio der Welt errichten könne. Bei der Frage nach seinen Filmfavoriten stöhnt er auf: „Du killst mich gerade! Eigentlich ist das unmöglich, zu beantworten.“ Spricht’s und nennt trotzdem drei Filme: „8 1/2“ (1963) von Federico Fellini, („Allein schon wegen Nino Rotas Musik!“) „The Revenant“ (2015) von Alejandro G. Iñárritu als “wahres Meisterwerk des Abenteuerfilms“ und „irgendeinen Film von Steven Spielberg, egal welchen, weil seine Filme seit meiner Jugend mein Leben begleitet haben und er der Beste ist, eine kommerzielle Geschichte anspruchsvoll zu erzählen“. Gibt es seinen roten Faden bei den Kriterien für seine Lieblingsfilme? „Ich muss sie formal respektieren, weil ich selbst Filmemacher bin, aber der einzige Weg für mich, in einen Film einzusteigen, ist, dass er mich spirituell oder emotional anspricht.“ Sein großer Wunsch ist, dass er bei der Berlinale 2023 wieder live und dann entweder mit dem fertigen Film oder bei einer wieder physisch stattfinden JETS Initiative als einer der Alumnis dabei sein kann. Welcome to Berlin, Jim!
Die Wege zum cineastischen Ruhm sind also sehr unterschiedlich. Doch wie sagte der 2020 mit 103 Jahren verstorbene Jahrhundert-Schauspieler Kirk Douglas als französischer Colonel Dax so treffend zu seinen vor lauter feindlichem Beschuss kaum aus den Schützengräben herauskommenden Soldaten in Stanley Kubricks bis heute erschütternden Antikriegs-Drama „Paths of Glory“ (1957): „Wenn jemand die Höhe 19 nehmen kann, dann ihr!“ (Im Original ist vom an sich uneinnehmbaren „Ameisenhügel“ die Rede.) In unserem Fall ist die „Höhe 19“ beziehungsweise der „Ameisenhügel“ für die ersten und zweiten Gewinner der JETS Initiative schon einmal überwunden!
Marc Hairapetian, Gründer und Herausgeber des Kulturmagazins SPIRIT – EIN LÄCHELN IM STURM https://spirit-fanzine.de