„Junge Männer führen Kriege und die Tugenden des Krieges sind die Tugenden junger Männer: Mut und Hoffnung für die Zukunft“, schmeichelt in David Leans Meisterwerk „Lawrence von Arabien“ (1962) der von Alec Guinness verkörperte Prinz Faisal dem konsternierten Peter O´Toole als „El Aurens“, welcher sich aufopferungsvoll für die Selbstbestimmung der vereinigten arabischen Stämme im Kampf gegen die Annexion des Osmanischen Reichs (und dem Rest der Welt) eingesetzt hat, um kalt lächelnd fortzufahren: „Dann machen alte Männer den Frieden und die Laster des Friedens sind die Laster der alten Männer: Misstrauen und Vorsicht. Es muss so sein.“ Bei der JETS Initiative 2022 geht die junge Generation von Filmemachern und Filmemacherinnen auch als Sieger hervor. Sie lassen sich aber nicht bevormunden. Selbstbewusst formulieren sie ihre Ziele. Eines davon lautet: „Auch wenn wir jetzt selbst versuchen, unsere Projekte zu realisieren, sind wir immer noch Film-Buddies geblieben, die gern zusammen ins Kino gehen und danach stundenlang darüber reden, was sie selbst hätten besser machen können“, sagt Joshua Ackerman, südafrikanischer Regisseur, Komponist und Co-Drehbuchautor von „Inyanga (The Healer)“. Lächelnd nickt in unserem Zoom-Interview sein zugeschalteter Kompagnon Brad Katzen, der zum Großteil die Story des mythischen Horror-Thrillers ersonnen hat.
Die Synopsis ist vielversprechend: Leena, eine erfahrene Hebamme und Inyanga (deutsch: „Heilerin“), lebt in einer armen ländlichen Gemeinde, die im uralten Aberglauben verwurzelt ist. Von den verzweifelten Eltern eines Jungen gerufen, der von Obambo, einem bösen Ahnengeist, besessen ist, versucht Leena zu helfen, deckt aber bald die schreckliche Wahrheit auf: Die Mutter des Jungen hat Obambo tatsächlich ihren Sohn als Opfer dargebracht. Leena kann den Jungen nicht retten, wird der Hexerei beschuldigt und für seinen Tod verantwortlich gemacht. Sie steht nun vor einer erschütternden Entscheidung: Sie muss mit Entsetzen zusehen, wie ihre Tochter von den Nachbarn in der Gemeinde sie bei lebendigem Leib verbrennende Halsketten umgelegt bekommt, oder einen Deal mit Obambo abschließen und seine Dienerin werden. Leena flieht aus der Gemeinde und arbeitet in einer verlassenen Süßwaren-Fabrik, wo sie niemand finden kann. Allein und hungrig verbringt Leena ihre Tage damit, die Schrecken der Vergangenheit zu vergessen. Einst eine liebevolle Mutter und Heilerin, jetzt eine von Obambo beanspruchte Hexe, der ihr befahl, sich am Fleisch menschlicher Kinder zu ergötzen. Eines Tages hört sie das Geräusch, vor dem sie sich gefürchtet hat. Stimmen – Kinderstimmen. Von ihrem feigen Vater und ihrer herrschsüchtigen Stiefmutter in der weiten, trostlosen Steppe verlassen, stoßen die vernünftige Gabisile und ihr kleiner Bruder Hulisani auf Leena und die Fabrik. Sie sind so gute Kinder. So gute, leckere Kinder. Aber Leena hat eine Schuld zu begleichen: „Iss sie!“ Wie kann sie? Wie kann sie nicht?
Eine wirklich sehr eigene „Hänsel und Gretel“-Variante. Der visuelle Stil soll laut Joshua Ackerman naturalistisch und “von der Vielfalt der afrikanischen Landschaft“ geprägt sein. Brad Katzen ergänzt: „Wir setzen auf handgemachte Kameratricks statt CGI-Effekte, mit denen das Publikum heutzutage überfrachtet wird. Und auf den humanitären Wandel einer Hexe, die vom schlechten Gewissen geplagt wird.“ Damit wolle man das Publikum emotional packen. Und außerdem habe es auf dem afrikanischen Kontinent, wo in weiten Teilen immer noch Hungersnot herrscht, eine „Hänsel und Gretel“-Filmadaption, die mit den eigenen Mythen und Traditionen spielt, noch nicht gegeben. Ein Gespräch mit den beiden artet schnell in eine leidenschaftliche Diskussion aus, was nun der beste Hexen-Streifen aller Zeiten ist: „Blair Witch Project“ (1999), „The Conjuring“ (2015), „The VVitch: A New-England Folktale“ (2015) oder doch „Rosemary´s Baby“ (1967)? Und der beste Horrorfilm überhaupt? Für Joshua und Brad ganz klar: „Shining“ von Stanley Kubrick, auch „weil sich der Horror über das Sound-Design schleichend ausbreitet“. Und dann wird’s ungewöhnlich: Auf dem zweiten Platz sieht Joshua Fatih Akins umstritteneres Frauenmörder-Biopic „Der goldene Handschuh“, der 2019 auf der Berlinale von den einen ausgebuht, von den anderen gefeiert wurde. Die Fachsimpelei könnte stundenlang so weitergehen, doch da ist noch Jung-Produzent Shaun Naidoo, der mit Xavier Naidoo zwar nicht verwandt ist, ihm aber sehr ähnlich sieht, allerdings mit schulterlangen Haaren. Er sucht für „Inyanga (The Healer)“ noch einen Co-Produktionspartner. Man kalkuliert „nur“ 1,73 Millionen Euro bzw. 2 Millionen US Dollar, umgerechnet 29,56 Millionen ZAR (Südafrikanische Rand), denn drehen in Südafrika ist viel preisgünstiger als anderswo und das Budget könnte sich inflationsbereinigt, wie er erläutert, bei der Herstellung im eigenen Land versechsfachen. Das ist also nicht nur ein künstlerischer, sondern vor allem auch ein wirtschaftlicher Anreiz für ausländische Investoren, einem Genre-Film auf die Beine zu helfen, der bei geschickter Vermarktung und Mund-zu-Mund-Propaganda zum Independent-Hit avancieren könnte.
Was erwarten sie von der JETS Initiative? „Einen Haufen Geld, um unseren Film endlich drehen zu können!“, grinst Brad breit, um schnell etwas ernster zu werden: „Wir fühlen uns natürlich geehrt, 2022 erstmals bei JETS dabei zu sein und dort unseren Pitch Ende Februar zu präsentieren.“ Für Joshua steht „der Austausch mit anderen Gleichgesinnten, die zwar spannende Ideen, sich aber noch nicht in der Filmindustrie etabliert haben“ im Vordergrund. Dazu werden die selbstbewussten, aber auch selbstkritischen Drei sicherlich Gelegenheit haben: Allein 25 Pitches aus sechs Ländern (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Irland, Kanada, Südafrika und erstmals Österreich) stehen auf dem Programm. Ingesamt werden über 100 Teilnehmer erwartet, darunter natürlich auch Verleiher und Förderanstalten.
Ein ganz anderes Beispiel für die Vielfalt der JETS Initiative in diesem Jahr ist „The Wall Dog“. Stop-Frame-Animation-Spezialistin und Drehbuchautorin Josephine Lohoar Selbst, die nun das erste Mal bei einem abendfüllenden Spielfilm Regie führen will, kommt zwar aus Irland, wohnt aber seit 2019 in Berlin, dass ihr bei einer Urlaubsreise so gut gefallen hat, dass sie gleich dageblieben ist. „Der Mauerhund“ über einen Ost-Berliner-Wachmann und seine zum absoluten Gehorsam verpflichteten Vierbeiner ist ihre Hommage an die wiedervereinte Ex-Mauerstadt. Tierpuppen in Stop Frame Animation zu zeigen, haben es ihr angetan: Mit Kurzfilmen wie „Günther Falls in Love“ (2020) und„The Fabric of You“ (2021 in der Oscar-„Longlist“ für die Academy Awards) konnte sie bereits Kostproben ihrer Kreativität abgegeben. Nun soll also „The Wall Dog“ für Furore sorgen. Der Stoff über die jüngste deutsche Vergangenheit stellt moralische Fragen, die uns auch heute angehen: Ronald Fischer, ein schüchterner 20-jähriger, ostdeutscher Bauernjunge, wird zum Wehrdienst eingezogen. Um unversehrt auf die Farm zurückzukehren, beschließt er, sich als Hundeführer zu spezialisieren, dessen Aufgabe es ist, die an der Berliner Mauer stationierten Wachhunde zu füttern und zu betreuen. Der junge Mann freundet sich bald mit einer kleinen Gruppe von Hundeführern an, die ihm helfen, aus seinem Schneckenhaus auszubrechen und die Herausforderungen des Lebens an der Mauer zu meistern. Aber als sich die Ereignisse nicht nur in der Kaserne überschlagen, beginnt sich Ronalds Glaube an seine Bestimmung an der Grenze schnell aufzulösen, und er muss sich entscheiden, ob er Stellung beziehen soll oder nicht…
Josephine Lohoar Self sieht gerade in dem altmodischen Charme der Stop-Frame-Animation-Technik ihre Chance. In England hat diese bereits eine große Tradition. Man denke an „Wallace and Gromit“ (1989 – 2010), die mit Kurz- und Kinofilmen sowie einer BBC-Serie jung und alt erfreu(t)en. Die Figuren wurden hier aus Plastilin auf Drahtgestellen modelliert und mit der Stop-Motion-Technik animiert. Dieser Prozess wird auch als „Claymation“ bezeichnet. Bei Josephine, die nun auch Irland in diesem Bereich nach vorne bringen möchte, kommen noch jede Menge Haar- und Fellteile dazu und natürlich massgeschneiderte Kostüme.
Deutschland, wo die Marionettenspiele der Augsburger Puppenkiste immer noch beliebt sind, obgleich sie im Fernsehen nur noch selten ausgestrahlt werden, könnte durchaus ein Markt für ihre Art von Film sein, zumal sie sich ja der deutsch-deutschen Thematik bedient: „Ich hoffe auf ein Comeback der Stop Frame Animation, die durch Wes Andersons ‚Isle of Dogs‘, der 2018 die Berlinale eröffnete, erfolgreich wiederbelebt wurde.“ Als ich ihr in unserem Video-Talk erzähle, dass ich Anderson seinerzeit interviewt habe und zuvor auch mehrfach Ray Harryhausen (1920 – 2013), das Genie der Stop-Motion-Technik („The 7th Voyage of Sindbad“, „Jason and the Argonauts“, „Clash of the Titans“), bekommt sie leuchtende Augen. Ich wiederum auch, wenn sie leidenschaftlich über die Animation der „Mauerhunde“ in ihrem Film spricht, bei dem jede Bewegung der Figuren von Hand eingestellt werden muss, um dann einzeln mit einer Frequenz von nach wie vor 24 Bildern pro Sekunde abfotografiert zu werden: „Animierte Hunde geben mir im Bewegungsablauf mehr Freiheit, auch wenn ich selbstverständlich reale mehr liebe!“ Ein Riesenaufwand also, vor allem zeitlich, um einen 90-minütigen Film fertigzustellen. Deswegen kalkuliert ihre irische Produzentin Carla Mooney auch mit einem relativ hohen Budget von 6 Millionen Euro. Man sieht keine Konkurrenz zu England. Im Gegenteil: Man würde sich über eine Zusammenarbeit mit dortigen Produktionspartnern, aber auch deutschen sehr freuen. Die JETS Initiative ist für sie eine „aufregende Plattform für Network und den Anschub außergewöhnlicher Filmprojekte, die kommerziell ertragreich sein können.“ Ein Anreiz also für Co-Produktionspartner, Förderanstalten und Verleiher, denn ein Abheben von der grau-bunten Masse der auf Dauer eintönigen CGI-Filme kann vor allem in Zeiten der Pandemie, wo das Publikum besondere Anreize braucht, um ins Kino zu gehen, auch eine Marktlücke sein!
Vielfalt wird also bei JETS GROSS geschrieben. Da wäre zum Beispiel noch „Dracu – The Eleonore Case“ von Regisseur und Drehbuchautor Marc Schlegel aus Österreich, der die wahre Geschichte der Parapsychologin Zoe Wassilko von Serecki erzählt, die in Rumänien einem zwölfjährigen Mädchen den von ihr Besitz ergreifenden, Titel gebenden Dämon austrieben will: Dracula und der Exorzist lassen schön grüßen! Oder das deutsche Projekt „Bullets and Popcorn“ von Eva Vazquez de Reoyo – ein Mafia-Film der anderen Art. Oder „Extravagant Ways to Say Goodbye“ (Regie und Drehbuch: Liese Khan, Südafrika), eine urkomische Auseinandersetzung mit einem mehr als ernsten Thema: dem (eigenen) Tod. Aber das sind alles Geschichten, die ein anderes Mal ausführlich analysiert werden sollen. Spätestens bei den Pitches der JETS Initiative 2022!
Marc Hairapetian, Gründer und Herausgeber des Kulturmagazins SPIRIT – EIN LÄCHELN IM STURM https://spirit-fanzine.de